Exposé

Dieses Buchprojekt trägt den Titel Acta Francorum: Essays in Neuer Heimat und Sachlichkeit und besteht aus einer Sammlung thematisch unterschiedlicher, persönlicher Essays. Wie aus dem Titel hervorgeht, wurzeln die Beiträge in (Unter-)Franken, hier etwas abstrahiert zu Francorum. Darin geht es um Vergangenheit, Umwelt, native anthropology und um eine Suche nach einem neuen Umgang mit dem Begriff Heimat. Im Zusammenhang mit diesem vieldeutigen Begriff wird hier eine neue Sachlichkeit gefordert, die angesichts der anhaltenden und epochalen Zeitenwende inklusiv ist, also sozial- und naturräumlich. Die im Jahreszeitenzyklus gegliederten Einzelkapitel verbinden Erinnerungen und Reflexionen des Aufwachsens im alten Zonenbezirk der 1980er-1990er Jahre mit den Erfahrungen des Fortgangs und des Unterwegs. Sie nehmen dabei immer Bezug zur Meta-Katastrophe des Klimawandels. So gesehen teilen sich anthropogener Klimawandel und Heimat — im Anschluss an Ernst Blochs Worte — dass sie uns allen in die Kindheit scheinen. Natürlich nur, insofern der Blick aus der Gegenwart auf ihre wahrscheinliche Zukunft etwas mit persönlicher Retrospektive anfangen kann.

Hintergrund

Der Titel Acta Francorum stammt ganz unverkennlich aus der Theatersprache. Das hat damit zu tun, dass das Theaterstück Der Faschingsmuffel des Laien-Ensembles Die Fahrenden Gaukler aus dem unterfränkischen Dorf Friesenhausen ausschlaggebend für die Entscheidung war, dieses Blog- und Buchprojekt zu schreiben. Das Stück habe ich am 2.2.2020 besucht, woraufhin sich die Idee beim Verfassen eines Blog-Beitrags konkretisierte – obwohl ich eigentlich gar nicht vorhatte, dass daraus noch einmal etwas größeres werden könnte. Doch während des Schreibens über eine echte Theaterbühne und ihr Umfeld stellte ich fest, dass der fiktive Text des Theaterstücks zahlreiche Möglichkeiten eröffnet, Verbindungen zur Welt außerhalb der Bühne herzustellen: auch die nicht-fiktionale Wirklichkeit, Erinnerungen und Entwicklungen können über Figuren, Rollen und Stories beschrieben werden. Diesen Ansatz der Figurationsanalyse, mit dem ich vorher schon in einem anderen Kontext gearbeitet habe, erläutere ich etwas ausführlicher in einem eigenen Beitrag.

Der Personal Essay

Die Acta Francorum sind ein sehr persönliches Projekt, weil es dabei auch um eine Rückkehr an die Orte und zu den Geschichten meiner Kindheit geht. Ich bin dabei besonders inspiriert von Didier Eribons autobiographisch-soziologischem Buch Rückkehr nach Reims (Retour à Reims), das ich im Jahr 2016 mit großer Begeisterung gelesen habe – und von dem schwer zu sagen ist, ob es sich um ein wissenschaftliches Buch, um eine autobiographische Reflexion, oder um beides zugleich handelt: einerseits lässt uns der Autor gesamtgesellschaftlich relevante Zusammenhänge wie Rechtsruck, Klassenattitüde und Homophobie verstehen – andererseits ist es aber eine äußerst persönliche Rückreise in die eigene Vergangenheit, soziale Herkunft, an den Geburtsort und zur Familie. Für mich war der von Eribon verwendete, gemischte Stil des Personal Essays eine Offenbarung: genau diese Form des essayistischen, denkenden Schreibens – mit der ich wissenschaftlich schreiben darf, aber nicht muss – ist mein Genre.

Aber auch ein bisschen mehr als das… Als Historiker, der seit genau zwanzig Jahren nicht mehr in Franken wohnte, hatte ich mich bisher hauptsächlich mit Südosteuropa und Anatolien beschäftigt (genauer unter Autor): doch das hieß ja keinesfalls, dass ich keine persönlichen Essays über Franken schreiben könnte, wohin ich regelmäßig fahre und wo ich mich oft für längere Zeit aufhalte. Außerdem war man in meiner wissenschaftlichen Umgebung auch immer dazu angehalten, über die eigene Positionalität, Situativität und Perspektive zu reflektieren – wofür aber die Einleitungen wissenschaftlicher Texte gleichzeitig nie ganz der richtige Ort waren. Für diese Art von Texten nutze ich daher auch den Blog; doch die Flüchtigkeit des Blog-Formats erschien mir bei all den Erinnerungen, die nun in mir zu arbeiten begannen, heraus drängten und sich mit anderen Themen verbinden wollten, bald unangemessen. Deshalb beschloss ich, dass es ein Buch geben sollte. Im Gegensatz zur gerade erst abgeschlossenen Dissertation sollte dieses Buch jedoch ohne schmerzhaften Zeitdruck wachsen dürfen.

Wer aber durch meinen erwähnten Hintergrund als Historiker in den Acta Francorum eine allumfassende Geschichte Frankens sucht, wird enttäuscht sein: es geht um eine Selektion persönlich gewichteter Themen, die meistens in prägenden Erinnerungen wurzeln und dadurch sowohl geschichtliche, als auch zeitgenössische und in die Zukunft gerichtete Bezüg herstellen. Ich nutze dabei die Möglichkeit des Rückblicks auf einen längeren Zeitraum bis in die 1980er Jahre – aber auch die Effekte der Entfremdung, der (Rück-)Reise und der Reiseeindrücke. Darüber beschreibe ich Entwicklungen und Tendenzen – z.B. die Energiewende, die Rolle der Religion, Ab- und Aufwertung des ländlichen Raums in den öffentlichen Meinungen usw. – als längere Prozesse, welche die gesamte Gesellschaft betreffen. Besonders bei der Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte Frankens und ihres grausamen Verlaufs während der Shoah ist mir erneut klar geworden, dass die intensive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus während meiner Jugend in Franken ziemlich direkt mit meiner späteren Berufswahl und den Themen meiner wissenschaftlichen Arbeit zu tun hat.

Meta-Katastrophe Klima

Dabei ist die Zusammenstellung der Themen zwar selektiv, aber nicht beliebig, wie unter Aufbau genauer erklärt. Denn wer heute über die Gesellschaft schreibt, schreibt aufgrund der globalen Verwobenheiten quasi zwangsläufig über eine globalisierte Gesellschaft, weshalb ich besonders jene Themen fokussiere, die von lokaler und globaler Relevanz sind: auch im Francorum geschieht, was woanders auf dem Globus passiert — seien es die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986, die Covid19-Pandemie ab 2020, oder die Meta-Katastrophe des Klimas mit ihren Sub-Katastrophen. Diese spiegle ich stets am lokalen, konkreten Beispiel des ländlichen (Unter-)Frankens: so lässt sich der Klimawandel nicht nur als weit entferntes, abstraktes und globales Wetterphänomen, sondern auch am lokalen Zustand der Wälder des Francorums sehr greifbar feststellen. Dasselbe gilt für all die anderenThemen, wie zum Beispiel die Fragen, wie unsere Wirtschaftsweise, unsere Glaubenssysteme und die stattfindenden Migrationsbewegungen gesellschaftlich verarbeitet werden. Um also den Horizont der persönlichen Erinnerung dazu notwendigerweise zu überschreiten, genügt die Beschreibung von Primärerfahrungen der Vergangenheit (einschließlich ihrer Verzerrungseffekte) selbstverständlich nicht. Deshalb trianguliere ich verschiedene Bezugsquellen und Genres zu einem hybriden, essayistischen Stil, wodurch der Ansatz auch experimentell ist (mehr zum Thema Hybridität in einem eigenen Beitrag).

Neue Heimat

Ernst Bloch verstand unter Heimat einen „Ort, an dem noch niemand war”, eine Utopie; als etwas, das „allen in die Kindheit scheint”. In diesem Zusammenhang sieht er die Heimat der Kindheit als einen Ort des Ineinanders von Abenteur und Geborgenheit, und unterscheidet zwischen einer ersten, zweiten und dritten Heimat. Niemand könne in der ersten Heimat bleiben, so Bloch, wobei der Umgang mit dem Ort der ersten Heimat unterschiedlich sein könne: die einen „müssen fort“, während die anderen bleiben, um zu bauen. Heimat werde als ein Ort der Ordnung verstanden, wo alle ihre Rolle wüssten, weshalb idealtypisch auch das archaische Dorf zuvorderst als Heimat vorgestellt werde: hier gibt es einen Schmied, einen Müller, einen Bader, usw. Natürlich erscheint das archetypische Dorf heute als Konzept hinfällig und soll hier auch nicht wieder aufgebaut werden. In den weiteren Ausführungen werde ich dennoch diskutieren, inwieweit sich Ernst Blochs und anderer Autorinnen Gedanken zu Heimat als Oikonomia – also als Ort der Haushaltsführung (daher: Ökonomie), des Prozesses und des Miteinanders – eignen, um das Konzept einer Neuen Heimat zu skizzieren: vielleicht gerade dort, wo man es am wenigsten erwarten würde, nämlich im ländlichen Raum. Mit Heimat ist nicht in erster Linie die bereits annotierte „Heimatlichkeit” gemeint, obwohl es auch um diese geht – zum Beispiel in der Herstellung von Heimat im Mundart-eater, wo ein überzeichneter Dialekt gepflegt wird. Die Formulierung der Neuen Heimat ist das Postulat, dass Zugehörigkeit als Beheimatet-Sein in der Welt und als verortetes Sein-in-der-Welt für alle Menschen offen stehen muss. Ich gehe davon aus, dass Menschen immer danach streben, eine Bindung zu einem oder mehreren Orten einzugehen, auch wenn diese Orte nicht zwangsläufig das ganze Leben hindurch identisch sein müssen – denn „der Mensch ist immer irgendwo” (Ernst Bloch).

Sachlichkeit

Mit der Forderung, die emotional und affektiv aufgeladene Kategorie Heimat durch Sachlichkeit zu ergänzen, knüpfe ich zunächst an Susanne Scharnowskis Buch Heimat: Geschichte eines Missverständnisses (2019) an. Die Autorin zeichnet darin die Begriffsgeschichte kundig bis in die Romantik nach — aber auch in die Kaiserzeit, in die Nazizeit, in das oft ziemlich kitschige Genre Heimatfilm – sowie zur Vorstellung der angeblichen Einzigartigkeit des deutschen Wortes Heimat, zu Heimat als Gefühl und Nostalgie und schließlich zur Forderung nach einem „kosmopolitischen Provinzialismus”.

Der ländliche Raum

Der ländliche Raum wurde und wird oft als rückständig empfunden – auch von seinen Bewohnerinnen selbst, die es unter dem Begriff der Landflucht seit der Industrialisierung grundsätzlich eher in die Städte zog als umgekehrt. Dies hat natürlich mit der Logik der Industriegesellschaften zu tun, da sich städtische Räume dort verdichtet haben, wo es Arbeitsplätze in der Industrie mit ihren Fabriken gab. Heute gilt vor allem die digitale Infrastruktur auf dem Land als stark vernachlässigt. Doch das Francorum bietet einige Besonderheiten, warum bis in die 1990er Jahre tatsächlich von einer Randständigkeit der Gegend gesprochen werden kann: hier lag eine nahezu hermetisch abgeriegelte Grenze zu den fränkischen Dörfern Thüringens. Andererseits lagern aber gerade im heutigen ländlichen Raum Stories und Beispiele von Ideen und Versuchen, sich mit den Herausforderungen unserer Zeit auseinanderzusetzen: Landkreise, die Energieautarkie anstreben — oder ein einzelnes Dorf, das dieses Ziel schon erreicht hat. Der Raum hat Themen auf Lager, die der Vorstellung einer monotonen Einheitlichkeit widersprechen. Und nicht erst seit Corona „trendet“ der ländliche Raum sogar unter Städtern, die ihre Zukunft nicht zwischen hohen Häuserschluchten sehen.

[Hier folgen noch weitere Ausführungen zu den Besonderheiten im ländlichen Raum und zur kosmopolitischen Perspektive, bezugnehmend auf die Forderung nach einem „kosmopolitischen Provinzialismus”]

Aufbau

Im Laufe des Schreibens hat sich eine zyklische Anordnung der Essaysammlung herausgeschält. Der Zyklus passt einerseits zum persönlichen Thema des Fortgangs und der Rückkehr — bzw. der Rückreisen nach Franken, während und nach denen die Texte entstehen. Aufgrund des Zentralität der im Hintergrund (und von Zeit zu Zeit im Vordergrund) ablaufenden Meta-Katastrophe des Klimas bildet den eigentlichen Zyklus aber der Lauf des Jahres und der Jahreszeiten. Deshalb gibt es erstens ein Winterkapitel, zweitens ein Frühlingskapitel, drittens ein Sommer- und viertens Herbstkapitel. Jede Saison beinhaltet drei Unterkapitel. In ihnen sind die einzelnen Stories angesiedelt, die hier teilweise als einzelne Beiträge veröffentlicht werden.

Kurzübersichten:

1. Winter

Der Zyklus beginnt mit dem Winter, denn nur der Januar ist zweigesichtig – wie schon sein römischer Namensgott Ianus und seine sprichwörtliche Janusköpfigkeit: er beginnt im Zwischen-den-Jahren, trägt Merkmale des Alten und des Neuen und ist damit uneindeutig (…)

2. Frühling

Der Winter war noch gar nicht zu Ende – und schon wurde unsere gesamte Zeit zu einer plötzlichen Epoche namens Corona, die den Zeitlauf jäh zerriss. Alle Urlaubspläne, Transkontinental-Flugrouten und Zusammenkünfte waren dahin – denn Corona herrschte von den Hauswänden herab: Stay the fuck home! (…)

3. Sommer

Der Sommer ist traditionell die Zeit des Urlaubs – doch im Corona-Sommer 2020 ist alles anders. Deshalb geht es hier auch um die Beobachtung, dass der ländliche Raum zunehmend aufgewertet und geschützt wird – während gleichzeitig sogar die
Insekten und Bienen drohen, aus ihm zu verschwinden (…)

4. Herbst

Im Herbst 2020 liegen die trockensten Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen hinter uns. Im Francorum hat das bewirkt, dass inzwischen riesige Holzstapel in sogenannte Holzquarantäne geraten sind. Diese Veränderungen beobachte ich aus dem Bus und auf einer frühherbstlichen Radtour (…)